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jacob v. gunten (2)

Man lernt hier im Institut Benjamenta Verluste empfinden und ertragen, und das ist meiner Meinung nach ein Können, eine Übung, ohne die der Mensch, mag er noch so bedeutend sein, stets ein großes Kind, eine Art weinerlicher Schreihals bleiben wird. Wir Zöglinge hoffen nichts, ja, es ist uns streng untersagt, Lebenshoffnungen in der Brust zu hegen, und doch sind wir vollkommen ruhig und heiter. Wie mag das kommen? Fühlen wir über unsern glattgekämmten Köpfen etwas wie Schutzengel hin und her schweben? Ich kann es nicht sagen. Vielleicht sind wir heiter und sorgenlos aus Beschränktheit. Auch möglich. Aber ist deshalb die Heiterkeit und Frische unserer Herzen weniger wert? Sind wir überhaupt dumm? Wir vibrieren. Unbewußt oder bewußt nehmen wir auf vieles ein wenig Bedacht, sind da und dort mit den Geistern, und die Empfindungen schicken wir nach allen möglichen Windrichtungen aus, Erfahrungen und Beobachtungen einsammelnd. Uns [114] tröstet so vieles, weil wir im allgemeinen sehr eifrige, sucherische Leute sind, und weil wir uns selber wenig schätzen. Wer sich selbst sehr schätzt, ist vor Entmutigungen und Herabwürdigungen nie sicher, denn stets begegnet dem selbstbewußten Menschen etwas Bewußtseinfeindliches. Und doch sind wir Schüler durchaus nicht ohne Würde, aber es ist eine sehr, sehr bewegungsfähige, kleine, bieg- und schmiegsame Würde. Übrigens legen wir sie an und ab je nach Erfordernissen. Sind wir Produkte einer höheren Kultur, oder sind wir Naturkinder? Auch das kann ich nicht sagen. Das eine weiß ich bestimmt: wir warten! Das ist unser Wert. Ja, wir warten, und wir horchen gleichsam ins Leben hinaus, in diese Ebene hinaus, die man Welt nennt, aufs Meer mit seinen Stürmen hinaus. Fuchs ist übrigens ausgetreten. Mir ist das sehr lieb. Ich wußte mit diesem Menschen nichts anzufangen.

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Ich bin meinem Bruder Johann begegnet, und zwar im dichtesten Menschengewimmel. Unser Wiedersehen hat sich sehr freundlich gestaltet. Es war ungezwungen und herzlich. Johann hat sich sehr nett benommen, und ich wahrscheinlich mich auch. Wir sind in ein kleines, verschwiegenes Restaurant getreten und haben dort geplaudert. »Bleib‘ nur der, der du bist, Bruder,« sprach Johann zu mir, »fange von tief unten an, das ist ausgezeichnet. Solltest du Hilfe brauchen – –« Ich machte eine leichte, verneinende Handbewegung. Er fuhr fort: »Denn sieh‘, oben, da lohnt es sich kaum noch zu leben. Sozusagen nämlich. Versteh‘ mich recht, lieber Bruder.« – Ich nickte lebhaft, denn es leuchtete mir schon zum voraus ein, was er mir sagte, aber ich bat ihn, weiterzureden, und er sprach: »Oben, da herrscht solch eine Luft. Nun, es herrscht eben eine Atmosphäre des Genuggetanhabens, und das hemmt und engt ein. Ich hoffe, du verstehst mich nicht ganz, denn wenn du mich verstündest, Bruder, dann wärest du ja eigentlich gräßlich.« – Wir lachten. O, mit einem Bruder zusammen lachen [79] zu können, das ist sehr hübsch. Er sagte: »Du bist jetzt sozusagen eine Null, bester Bruder. Aber wenn man jung ist, soll man auch eine Null sein, denn nichts ist so verderblich wie das frühe, das allzufrühe Irgendetwasbedeuten. Gewiß: dir bedeutest du etwas. Bravo. Vortrefflich. Aber der Welt bist du noch nichts, und das ist fast ebenso vortrefflich. Immer hoffe ich, du verstehst mich nicht ganz, denn wenn du mich vollkommen verstündest – –« »Wäre ich ja gräßlich,« fiel ich ihm ins Wort. Wir lachten von neuem. Es war sehr lustig. Ein merkwürdiges Feuer fing an, mich zu beseelen. Meine Augen brannten. Das liebe ich übrigens sehr, wenn’s mir so verbrannt zumut ist. Mein Kopf ist dann ganz rot. Und Gedanken voll Reinheit und Hoheit pflegen mich dann zu bestürmen. Johann fuhr fort, er sagte folgendes: »Bruder, bitte, unterbrich mich nicht immer. Dein dummes junges Gelächter hat etwas Ideenerstickendes. Höre. Paß gut auf. Was ich dir sage, kann dir vielleicht eines Tages von Nutzen sein. Vor allen Dingen: komme dir nie verstoßen vor. Verstoßen, Bruder, das gibt es gar nicht, denn es gibt vielleicht auf dieser Welt gar, gar nichts redlich Erstrebenswertes. Und doch sollst du streben, leidenschaftlich sogar. Aber damit du nie allzu sehnsüchtig bist: präge dir ein: nichts, nichts Erstrebenswertes gibt es. Es ist [80] alles faul. Verstehst du das? Sieh‘, ich hoffe immer, du könntest das alles nicht so recht verstehen. Ich mache mir Sorgen.« – Ich sagte: »Leider bin ich zu intelligent, um dich, wie du hoffst, mißverstehen zu können. Aber sei ohne Sorgen. Du erschreckst mich durchaus nicht mit deinen Enthüllungen.« – Wir lächelten uns an. Dann bestellten wir uns Neues zu trinken, und Johann, der übrigens sehr elegant aussah, fuhr fort zu sprechen: »Es gibt ja allerdings einen sogenannten Fortschritt auf Erden, aber das ist nur eine der vielen Lügen, die die Geschäftemacher ausstreuen, damit sie um so frecher und schonungsloser Geld aus der Menge herauspressen können. Die Masse, das ist der Sklave von heute, und der Einzelne ist der Sklave des großartigen Massengedankens. Es gibt nichts Schönes und Vortreffliches mehr. Du mußt dir das Schöne und Gute und Rechtschaffene träumen. Sage mir, verstehst du zu träumen?« – Ich begnügte mich, mit dem Kopf zweimal zu nicken und ließ Johann, indem ich gespannt aufhorchte, fortreden: »Versuche es, fertig zu kriegen, viel, viel Geld zu erwerben. Am Geld ist noch nichts verpfuscht, sonst an allem. Alles, alles ist verdorben, halbiert, der Zier und der Pracht beraubt. Unsere Städte verschwinden unaufhaltsam vom Erdboden. Klötze nehmen den Raum ein, den Wohnhäuser und [81] Fürstenpaläste eingenommen haben. Das Klavier, lieber Bruder, und das damit verbundene Klimpern! Konzert und Theater fallen von Stufe zu Stufe, auf einen immer tieferen Standpunkt. Es gibt ja allerdings noch so etwas wie eine tonangebende Gesellschaft, aber sie hat nicht mehr die Fähigkeit, Töne der Würde und des Feinsinnes anzuschlagen. Es gibt Bücher – – mit einem Wort, sei niemals verzagt. Bleib arm und verachtet, lieber Freund. Auch den Geld-Gedanken schlage dir weg. Es ist das Schönste und Triumphierendste, man ist ein ganz armer Teufel. Die Reichen, Jakob, sind sehr unzufrieden und unglücklich. Die reichen Leute von heutzutage: sie haben nichts mehr. Das sind die wahren Verhungerten.« – Ich nickte wieder. Es ist wahr, ich sage sehr leicht ja zu allem. Übrigens gefiel mir und paßte mir, was Johann sagte. Es war Stolz in dem, was er sprach, und Trauer. Nun, und dies beides, Stolz und Trauer, ergibt immer einen guten Klang. Wieder bestellten wir Bier, und mein Gegenüber sagte: »Du mußt hoffen und doch nichts hoffen. Schau empor an etwas, ja gewiß, denn das ziemt dir, du bist jung, unverschämt jung, Jakob, aber, gesteh‘ dir immer, daß du’s verachtest, das, an dem du respektvoll emporschaust. Du nickst schon wieder? Teufel, was bist du für ein verständnisvoller Zuhörer. Du bist [82] geradezu ein Baum, der voll Verständnis behangen ist. Sei zufrieden, lieber Bruder, strebe, lerne, tu womöglich irgend jemandem etwas Liebes und Gutes. Komm‘, ich muß gehen. Sag‘, wann treffen wir uns wieder? Du interessierst mich, offen gesagt.« – Wir gingen, und draußen auf der Straße nahmen wir Abschied voneinander. Lange schaute ich meinem lieben Bruder nach. Ja, er ist mein Bruder. Wie freut mich das.

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